08.05.2023 - von Emre
Wenn man darüber nachdenkt, ein Auslandssemester zu absolvieren, kommt man nicht drumherum, gleichzeitig über den Ort des Auslandssemesters nachzudenken – oft denkt man dabei gleich an typische Großstädte: „London, Madrid oder Wien, das sind vielversprechende Städte!“ Als ich mich dazu entschloss, ein Auslandssemester in England zu absolvieren, war ich mir noch nicht sicher darüber, was für Erwartungen ich an ein solches Abenteuer hatte, und noch weniger hatte ich eine Idee davon, wo genau es am Ende für mich hingehen sollte. Während meiner Erasmus-Bewerbung war es dann schließlich Zeit, mich mit diesen Punkten auseinanderzusetzen. Welche Partneruniversitäten stehen mir offen? Was möchte ich aus dieser Erfahrung mitnehmen? Und vor allem: Wo möchte ich eigentlich hin?
Als ich mir die Partneruniversitäten ansah, fielen mir zwei der Orte gleich ins Auge: Leeds und Birmingham – zwei der fünf größten Städte Englands. „Leeds und Birmingham sind typische Studentenstädte und gehören zu den größten Städten Englands, das kann doch nur gut werden!“ war nur einer von unzähligen Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, als mich das Gefühl überkam, dass die Ortswahl den kompletten Verlauf meines Auslandssemesters bestimmen würde; ich würde schließlich mindestens vier Monate an dem Ort verbringen, auf den ich mich jetzt festlegte. Die restlichen Optionen bzw. die anderen Städte beachtete ich vorerst nicht weiter – ich hatte noch nie von ihnen gehört.
Während ich überlegte, welchen der beiden genannten Orte ich als Erstwunsch angeben sollte, wurde mir bewusst, warum ich eigentlich ein Auslandssemester absolvieren wollte: mir ging es dabei eigentlich nie primär um den Ort, an dem ich am Ende landete. Ich wollte etwas Neues erleben – etwas, das ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erlebt hatte, und eventuell auch noch gar nicht in dieser Art in Erwägung gezogen hatte. Mir wurde klar, dass ich nicht an einen Ort gehen wollte, nur weil dieser Ort eine Großstadt ist; obwohl es typische Studentenstädte sind, gaben mir weder Leeds noch Birmingham ein Gefühl von „Da will ich hin!“. Also entschied ich, mich nicht auf diese beiden Optionen zu beschränken, sondern mir auch die anderen möglichen Orte und Universitäten wenigstens einmal genauer anzuschauen. Über diese Entscheidung könnte ich jetzt, im Nachhinein, nicht glücklicher sein, da ich mir kurz darauf sicher war, wo es für mich hingehen sollte: nicht Leeds oder Birmingham, sondern Chichester – „Da will ich hin!“.
Mein Erstwunsch war also die University of Chichester an der Südküste Englands – eine kleine, aber malerische Universität mit insgesamt knapp 5.000 Studierenden (an der UDE sind es über 40.000), in einer kleinen, aber wunderschönen Stadt mit nicht einmal 30.000 Einwohnern (Essen hat knapp 600.000 Einwohner). Das bedeutete für mich, dass es in jeglicher Hinsicht eine völlig neue und unerwartete Erfahrung werden würde: das Leben und das Studieren in einer Großstadt konnte ich mir, glaube ich, relativ gut vorstellen; das Leben und Studieren in einer so kleinen Stadt jedoch überhaupt nicht. Es war also eigentlich genau das, was ich wollte: vor mir lag eine komplett neue Erfahrung; ein Abenteuer, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, was es für mich bereithielt. Aber ein paar Tage vor meiner Abreise nach Chichester begann ich meine Ortswahl in vielerlei Hinsichten zu hinterfragen: Was, wenn es in so einer kleinen Stadt schnell langweilig wird? Was, wenn es in einer Großstadt einfacher wäre neue Leute kennenzulernen? Was, wenn das Alles am Ende aufgrund meiner Ortswahl nicht so bereichernd wird, wie ich es mir erhoffe?
Nach fünf wundervollen Monaten, die ich in Chichester verbringen durfte, ist mir klar, dass all diese Sorgen überhaupt nicht nötig waren – man sollte nicht grundsätzlich davon abgeneigt sein, für ein Auslandssemester in eine Kleinstadt zu gehen. Natürlich ist das Leben in einer so kleinen Stadt nicht unbedingt zu vergleichen mit dem Leben in einer Millionen-Einwohner-Stadt – das heißt jedoch nicht, dass es schlechter oder langweiliger ist, und ganz bestimmt heißt das nicht, dass es nicht ganz so bereichernd sein kann! Ganz im Gegenteil: das Leben und Studieren in einer Kleinstadt bringt durchaus Vorteile mit sich.
Das „Uni-Leben“ in so einer Kleinstadt ersetzt das ganze Großstadtleben: die Student Union (in etwa vergleichbar mit Studierendenvereinigungen und dem AStA) meiner Universität veranstaltete wöchentlich 3-4 (!) Events (Spieleabende, Karaoke-Abende, Ausflüge etc.), an denen alle Studierende der Universität und auch nicht-Studierende teilnehmen konnten. Während des Semesters fand jeden Mittwoch die größte Feier der ganzen Stadt statt – und das in dem eigenen Student Union Gebäude auf dem Campus der Universität. Es gab jede Woche ein anderes Motto, zu dem man sich verkleiden konnte: sei es first-letter, 80’s oder pyjama party – für jeden war etwas dabei, und es wurde nie langweilig! Falls man dann doch mal das Großstadtleben erfahren wollte, war es aufgrund der Nähe zu Großstädten, wie Brighton und London, zu jeder Zeit möglich, spontane Ausflüge zu unternehmen, um auch in den Genuss von Großstädten zu kommen.
Ein weiterer Punkt, den ich an der Kleinstadt ganz besonders zu schätzen weiß: der unglaublich familiäre und warme Umgang der Menschen miteinander. Von dem ersten Moment an hatte ich das Gefühl, in dieser Stadt willkommen zu sein – sei es eine einheimische, unbekannte Person, die mich an meinem ersten Tag ansprach, um ihre Hilfe anzubieten; der Verkäufer meines Lieblings-Lebensmittelladens, mit dem man über jegliche Themen sprechen konnte, oder meine einheimischen Mitbewohner:innen und Mitstudierenden, die mir von Beginn an das Gefühl gaben, am richtigen Ort gelandet zu sein. Ich denke, dass dies der ganz große Vorteil eines Auslandssemesters in einer Kleinstadt ist: die Offenheit der Menschen und die enge Verbundenheit, die man zu seinen Freunden und Fremden, und auch zu der Universität spürt. Die Seminare in einer so kleinen Universität sind sehr klein – zum Teil mit weniger als 10 Studierenden –, was eine viel engere und persönlichere Beziehung zu seinen Mitstudierenden und den Dozierenden ermöglicht. Im Endeffekt waren es aber die unzähligen wertvollen Momente mit meinen Freunden, die ich dort kennengelernt habe, die mich in diesem knapp halben Jahr ganz besonderes geprägt haben und bis heute noch prägen – und ich denke, dass das familiäre Miteinander in der Kleinstadt ganz besonders dazu beigetragen hat, mir so enge Freundschaften zu ermöglichen, die ich nicht mehr missen möchte. Diesen Punkt hätte ich mir vor meinem Antritt des Auslandssemesters nicht ausmalen können – und nach meiner Zeit in Chichester kann ich mir keine wertvollere Erfahrung als diese vorstellen.
Eine Kleinstadt sollte somit nichts sein, wovor du bei der Ortswahl für dein Auslandssemester zurückschrecken solltest. Es wird nie langweilig und wertvolle Erinnerungen und Erfahrungen macht man vor allem mit wertvollen Menschen – und besonders die Kleinstadt ermöglicht es, so schnell so enge Freundschaften zu schließen. Für ein Auslandssemester muss es nicht London, Madrid oder Wien sein – unscheinbare Orte, wie Chichester, können mindestens genauso bereichernd sein.
Bei Fragen an Emre meldet euch unter auslandslotsen@uni-due.de
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